Als Weinberater mache ich ja eigentlich keine Hausbesuche. Doch keine Regel ohne Ausnahme und die Schilderungen meiner hochbetagten Kundin, welche ich seit vielen Jahren in den alkoholischen Fragen des Lebens beraten darf (Wein für den Schwiegersohn und Whisky für den Nachbarn der auf die Katze aufpasst) klangen nach einem Abenteuer. Sie sprach von im Keller versunkenen Schätzen welche ihr verstorbener Mann aus allen Herren Ländern zusammengetragen habe, von Geschmacks-Trouvaillen welche in den letzten Dekaden kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hat. Und ich dürfe – nein, ich soll sogar – diese Gruft der sensorischen Verführungen betreten und mich an den Reliquien bedienen. So habe ich mich eines Tages in die Tiefen ihres Kellers begeben, wo diese Weinflaschen in Staubschichten und Spinnweben begraben sind. Ich musste meine Taschenlampe und eine Machete mitnehmen, um durch den Dschungel zu navigieren, doch dann betrat ich das staubige Atlantis. Ich schaufelte den Staub von den Etiketten und stellte fest, dass einige von ihnen so verblasst waren, dass selbst Sherlock Holmes Schwierigkeiten gehabt hätte, sie zu entziffern. Mit jedem Wort, welches ich trotzdem entdecken konnte lief es mir kalt den Rücken hinab. Die vermeintliche Schatzkammer verwandelte sich mit jedem Begriff mehr und mehr in ein Gruselkabinett: Da lang ein Beaujolais Nouveau* unter einer dicken Staubschicht, daneben ein Oeil de Perdrix* aus den achziger Jahren** und in der Ecke stand eine Fiasko** ohne Jahrgang. Die Augen der Dame strahlten mich erwartungsvoll an. Ich dürfe so viele Flaschen mitnehmen wie ich möchte. Ich lehnte ab. Sie bestand darauf. Ich griff mir widerwillig eine Flasche. Sie holte ein grosse Kartonkiste. Ich erfand Rückenprobleme. Sie half beim Tragen. Zuhause entkorkte ich eine Flasche, deren Etikett ich gerade noch so als „irgendwas mit 19…“ identifizieren konnte. Der Korken bröselte auseinander, als ich ihn herauszog, und der Wein hatte eine Farbe, die verdächtig an Rost erinnerte. Er roch nach Geschichte, nach vergangenen Zeiten doch Spass riecht anders. Solche Weine sind ein wenig wie ein Film auf VHS Kassette, den man einst selber am Fernsehen aufgenommen hatte. Eine schöne Erinnerung, ein Stück Geschichte gar doch anschauen möchte man sich die nicht mehr.
*Erster Wein des Jahres. Kommt ohne Ausbau auf den Markt und muss sofort getrunken werden. In Japan wird sogar darin gebadet.
**Traditioneller Rose ursprünglich aus dem Kanton Neuenburg. Sollte innert 2 Jahren getrunken werden
*** Korbflasche für Chianti und andere Italienische Weine. Das fehlen des Jahrgangs deutet auf eine einfache Qualität hin, die sich nicht zum Lagern eignet.